Walther von der Vogelweide

Abstract

Der Beitrag fragt zunächst nach den historischen Gründen für eine Kanonisierung Walthers von der Vogelweide und zeichnet dafür in kräftigen Strichen die lange Rezeptionsgeschichte, beginnend mit der besonderen Wertschätzung des Dichters zu seinen Lebzeiten, bis ins 20. Jahrhundert nach. Dabei zeigt sich, dass Walther zu keiner Zeit in seiner spezifischen Eigenart wahrgenommen wurde, er vielmehr als Gewährsmann und Verbündeter in eigener künstlerischer, politischer oder ideologischer Sache gelesen wurde, Kanonisierung und Missverständnis bzw. Missbrauch somit stets Hand in Hand gingen. Im Anschluss an die moderne Wertediskussion in der Literaturwissenschaft unternimmt der Beitrag sodann den Versuch, angemessenere, nämlich ästhetische und wirkungsbezogene Kriterien zu bestimmen, die es rechtfertigen, Walther noch heute den Status eines Klassikers zuzusprechen. Als Qualitätsmerkmale gelten demnach Vielseitigkeit, Originalität und Kreativität, aber auch die Erzeugung von Komplexität und Pluralität von Sinn, wie an ausgewählten Beispielen aus allen lyrischen Gattungen gezeigt wird. Walther selbst hat für sich den Status eines Klassikers reklamiert, wenn er gelegentlich in der Rolle König Davids, nach mittelalterlichem Verständnis der Prototyp aller Dichter, spricht.